Ansprüche auf Dinge erheben, auf die man keinen Anspruch hat

Von Zürich nach Basel – Von der Frage, was einen Pendler eigentlich zum Pendler macht

 

Natürlich kann man sich hier auf die Definition des Dudens berufen, die besagt, Pendeln bedeutet, sich zwischen zwei Orten hin- und herbewegen, besonders zwischen dem Wohnort und dem Ort des Arbeitsplatzes, der Schule o. Ä. oder innerhalb eines Tages hin- und herfahren. Das ist zwar richtig, aber hinter dem Pendeln steckt so viel mehr, als nur hin und her zu fahren.

 

Ein Pendler hat Gewohnheiten. Verräterische Gewohnheiten, die über die Definition im Duden hinausgehen. Ein Pendler bekommt, was er sich wünscht, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben. Außer vielleicht bitte und danke. Das läuft dann so: Du kommst an die Theke deiner Lieblingsbäckerei, wo dich der oder die Angestellte bereits mit breitem Grinsen erwartet. Dein Kaffee Latte läuft schon durch und dein «Schoggiweggli» liegt bereit. Mit einem dankbaren Lächeln bezahlst du und machst dich an die nächste Etappe deiner Gewohnheitsreise: der Weg zum Bahnsteig.

 

In aller Regel fährt der Zug bis zum alljährlichen Fahrplanwechsel auf demselben Gleis. Der Automatismus will es so, dass du erst merkst, dass das Gleis geändert hat, wenn du vollbepackt mit deinem «Schoggiweggli» und dem Kaffee Latte auf dem Perron stehst. Erst dann erkennst du, dass der Zug überhaupt nicht da ist. Das geschieht aber eigentlich nie. Also steuerst du zielstrebig auf die gewohnte Plattform. Du strebst den gewohnten Wagen an. Du suchst dir deinen üblichen Sitzplatz aus. Du richtest dich ein.

 

Dein einziger Gedanke auf diesem Weg: Wehe, der angestammte Platz ist nicht mehr frei. Wehe, irgendein anderer hat sich DEINEN Platz vor dir geschnappt. Er ist nicht reserviert für dich, natürlich ist er das nicht. Du steigst zwar in letzter Sekunde zu, aber trotzdem ist es dein Sitzplatz. Weil du immer dort sitzt, wenn du diese Verbindung nimmst. Immer. Zugegeben, manchmal hat es mich sogar ein wenig geärgert, wenn jemand meinen Platz eingenommen hat … Noch so ein Zeichen, dass man zu oft dieselbe Strecke fährt: Ansprüche auf Dinge erheben, auf die man keinen Anspruch hat.

 

Hat man aber einen der Tage erwischt, an denen man SEINEN Sitzplatz, in SEINEM Wagen, in SEINEM Zug einnehmen kann, und sieht sich dann um, kann man feststellen: Man ist nicht allein. Die anderen, die auf dieser Verbindung stets dieselben Plätze einnehmen, sind auch da. Selbst die Gewohnheiten nach der Platzeinnahme sind stets dieselben. Der Pendler-Kollege schräg vorne widmet sich gleich nach der Abfahrt seinem üblichen Zug-Frühstück, aus dem WECK-Einmachglas. Dann macht er sein Nickerchen. Mein Pendler-Kumpel in der Zweierreihe rechts von mir setzt erst seine Kopfhörer auf, dann dreht er seine Zigaretten. Zusätzlich haben wir noch den, bei dem alles klappt: Mit dem Klappfahrrad rollt er zur Zugtür, dann klappt er sein Fahrrad zusammen, um nach dem Einsteigen den Klapptisch an seinem Platz runterzuklappen und daraufhin den Laptop auf dem Klapptisch aufzuklappen. Und ich? Bei mir klappts auch: Tisch runter, Laptop auf. Während der Fahrt kühlt mein von Zuhause mitgebrachter Kaffee aus. Immer.

 

Irgendwann kommt der Augenblick, in dem der Zugbegleiter die Fahrscheine sehen möchte. Ich zücke mein Generalabonnement und strecke es ihm hin. Er winkt ab.

 

Das ist bis Ende Jahr das letzte Mal, das ich bei diesem Zugbegleiter mein Ticket vorweisen muss. Anfang des neuen Jahres wird er die Gültigkeit wieder kontrollieren. Einmal. Dann nie mehr. Egal auf welcher Verbindung ich ihn antreffe.

 

Inzwischen habe ich meine Arbeitsstelle gewechselt. Von meinen Pendlerkollegen habe ich mich nicht verabschiedet. Ich frage mich manchmal, ob sie sich wundern, wo ich bin?

 

Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlicht auf berglink.de

 

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