„Ich leide mit Leila“

Von Winterthur nach Basel – von Telefonaten und Seifenopern

 

Was ist das mit den Telefonaten im Zug? Der lauten Musik? Der Videotelefonie? Dem Fragen, ob der Platz noch frei ist, obwohl der Platz unübersehbar noch zu haben ist? Weshalb ist es ein Ärgernis, wenn jemand die Füße auf dem Sitz gegenüber ablegt oder sich quer über den Sitz hinlegt? Wenn Plätze mit Gepäck belegt werden, obwohl der Zug offensichtlich brechend voll ist?

 

Wirken die Gerüche von mitgebrachtem Essen belästigend auf die Mitreisenden? Das bringt meine Nervenbahnen zwar nicht zum Vibrieren, aber jemand anderes stört sich vermutlich daran.

 

Oder warum sorgt die Unpünktlichkeit der SBB von bereits einer Minute regelmäßig für rote Köpfe? Die Störungen im Bahnverkehr, die Ausfälle, der Mangel an Sitzplätzen in vollgestopften Zügen?

 

Die Frage nach den Ticketpreisen werfe ich schon gar nicht auf …

 

Mir schwirren eine Menge Fragezeichen durch den Kopf, wenn ich an die Nutzung von Zügen denke. Aber nehmen wir uns für den Anfang mal die Telefonate im Zug vor. Dazu fallen mir viele Anekdoten ein. Zum Beispiel der Junge, der mir auf der Fahrt nach Grindelwald aufgefallen ist. Er sprach mit seiner Mutter, wollte wissen, ob er ihr E-Bike ausleihen könne. Was folgte, war eine Rechtfertigung seinerseits: Er sei nicht Cola süchtig, er habe nur Wasser getrunken. Das E-Bike bekam er trotzdem nicht. Als Konsequenz dachte er laut darüber nach, sich einen Motorroller zuzulegen. Ausgesprochen interessant, wie eins zum andern führen kann …

 

Eine Unterhaltung zwischen mehreren Anwesenden stört uns eigentlich nicht, oder? Da gibt es ein Gegenüber, das antwortet. Bei einem Telefonat hören wir nur eine Seite. Den Rest reimen wir uns zusammen. Meistens. Ob wir wollen oder nicht. Es gibt Telefonate, die kann man ausblenden. Sie finden nebenbei statt, so wie Musik, die nebenher läuft. Man hört sie, schnappt Passagen auf. Man ist aber nicht wirklich abgelenkt. Es gibt jedoch auch die Telefonate mit dem Extra. Extra laut. Extra krass. Extra gut gelaunt. Extra genervt. Extra dramatisch … Extra aufmerksamkeitsheischend.

 

So will ich zum Beispiel nicht hinhören, als die Seifenoper in gefühlten fünfzig Akten im Viererabteil am Ende des Zuges über die Bühne geht. Aber ich kann nicht anders: Ich fahre mit der telefonierenden Leila nicht nur Zug, ich fahre Gefühlsachterbahn. Ich weiß jetzt, sie hatte oder hat einen viel älteren Freund, will ihre Zeit aber nicht mehr mit ihm verschwenden, denn er versteht sie nicht. Wenn sie mit ihm redet, redet sie an eine Wand, sogar die versteht ihre Anliegen noch besser als er.

 

Ich leide mit Leila, weil ihr viel älterer Freund im Krankenhaus ist und sie ihn nicht besuchen darf, weil sie nicht zur Familie gehört. Ich bekomme Mitleid, als sie erzählte, dass alle in seinem Umfeld über Leila lästern. Auf Luxemburgisch, was sie, als Schweizerin, aber perfekt versteht. Das ist ihr wichtig, denn sie betont es mehrfach.

 

Ich fiebere mit, als ich erfahre, dass die geldgierige Ex-Freundin, die ein Kind von Leilas (Ex-)Freund hat, sein Testament klaute. Ein wichtiges Schriftstück, denn Leila ist darin angeblich berücksichtigt. Oder ist es doch die Cousine, die sich sein Testament unter den Nagel riss …? Zugegeben, kurz verliere ich den Faden.

 

Ich bin stolz, als Leila mitteilt, sein Geld überhaupt nicht zu wollen, obwohl er steinreich ist. Ich hätte sie am liebsten angefeuert: «Tu es, Mädchen!», als sie zusichert, sich gleich Morgen bei einem Freund um einen Job zu bewerben, den sie sowieso bekäme.

 

Leila unterhält nicht nur mich. Sie unterhält auch einen Mann im dunkelblauen Anzug, der ihr beim Aussteigen den Tipp gibt, diese privaten Dinge das nächste Mal vielleicht in ebenso privatem Rahmen zu besprechen.

 

Am Ende meiner Reise stelle ich fest, ich habe kein einziges Wort für mein Buch getippt. Ich konnte Leila nicht ausblenden, wie ich ein Gespräch ausblenden kann, das zwischen zwei anwesenden Gesprächspartnern stattfindet. Umso bedauerlicher ist es, dass ich nie erfahren werde, wie Leilas Geschichte ausgeht … 

 

Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlich auf berglink.de

 

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