Jeder Mensch hat einen Doppelgänger

Von Zürich nach Chur und Basel – Von Doppelgängern und Doppelstöckern

 

Der Zug-Tag beginnt übel. Zuhause die Zeit vergessen, muss ich mich beeilen, meinen Anschluss noch zu erwischen. Die Fahrt soll heute von Winterthur nach Chur führen und von dort nach Basel. Die klassischen Schweizer Bahnhofsuhren mit ihren exakt tickenden, roten Sekundenzeigern sind in solchen Momenten meine besten Freunde. Ich bin nicht der Fahrgast, der sich bereits zwanzig Minuten vor Einfahrt des Zuges am Bahnhof einfindet. Ich bin der Fahrgast, der es knapp 20 Sekunden vor Abfahrt in den Zug schafft. Indiana-Jones-mäßig schlüpf ich meistens gerade noch so durch den immer enger werdenden Spalt der sich letztmals schließenden Zugtür. Zumindest kommt es mir in den Momenten so vor. Genau genommen sind zwischen Abfahrtszeit und effektiver Abfahrt noch rund 20 Sekunden eingerechnet, in denen der Zugbegleiter die Abfahrt vorbereitet. Das wissen aber die Wenigsten und das ist gut so.

 

Ich jogge heute also in guter alter Manier auf den Zug und da geschieht es: Ich höre, dass etwas scheppert, halte an, dreh mich um und entdecke meine heißgeliebte Thermoskanne auf dem Gleis. Sie ist einfach aus meiner Tasche gehüpft! Ich bin so entsetzt, dass ich kurz nachdenke, ob ich meinen Kaffee nun retten soll oder doch lieber den Zug erwische. Eigentlich ist die erste Überlegung überhaupt keine Option. Oder hätte ich mich etwa bäuchlings auf das Perron legen und nach der Flasche grabschen sollen, die auf den Geleisen liegt, auf denen zum gleichen Zeitpunkt ein abfahrbereiter Zug steht? Wohl kaum. Einmal abgesehen davon, dass das Betreten von Gleisanlagen sowieso strengstens verboten ist.

 

An diesem Morgen habe ich also einen Verlust zu beklagen: Mein wunderschönes Souvenir, heim gebracht aus Seattle, USA, ist weg. Und der Kaffee auch. Die wunderbare Landschaft, durch die mich der Doppelstockzug schaukelt, entschädigt einigermaßen für diesen Verlust. Dafür vermisse ich die Steckdose und den Klapptisch.

 

In Chur empfängt mich die Sonne und ich lasse mich dazu verleiten, die Altstadt aufzusuchen, ehe ich mir einen Kaffee zum Mitnehmen kaufe. So der Plan. Die Sache ist nur die: So viel Zeit habe ich überhaupt nicht. Ich habe knapp 20 Minuten, um umzusteigen. Mit dem was folgt, habe ich daher irgendwie gerechnet: Die Altstadt habe ich gesehen. Wunderschön. Den direkten Zug nach Basel habe ich verpasst. Einen Kaffee habe ich keinen gekauft. Aus Zeitnot. Stattdessen sitze ich in einem doppelstöckigen Bummel-Zug ohne Steckdosen und ohne Klapptische zurück nach Zürich. Allmählich kristallisiert sich heraus, welche Züge ich bevorzuge. Ich kenn die Typenbezeichnungen nicht, ich kenn die Namen nicht, aber ich weiß, wie sie aussehen und ich weiß, dass ich heute keinen davon erwischt habe. Dafür bin ich meinem Onkel begegnet. Oder eher: seinem Doppelgänger.

 

Jeder Mensch hat einen Doppelgänger.

 

Kennt ihr das? Ihr spaziert irgendwo, womöglich am andern Ende der Welt, die Straße entlang oder ihr habt euch bei der Sehenswürdigkeit XY in der Nähe des Äquators in eine Warteschlange eingereiht, da erhascht ihr einen Blick auf eine andere Person und denkt: Was macht die denn hier? Ihr wollt schon zum großen Hallo ausholen, da werdet ihr auf einmal unsicher. Ist sie es tatsächlich? Ihr schaut nochmal hin, und nochmal. Ihr entscheidet: Die Person ansprechen lass ich lieber. Aber ihr kurz schreiben, das geht. Schnell ist das Handy gezückt und der Person, von der ihr glaubt, dass sie da gerade mit euch Schlange steht, eine Nachricht getippt. Es stellt sich heraus, die gemeinte Person ist zu genau diesem Zeitpunkt ganz woanders. Obwohl ihr das Gegenteil hättet schwören können. Richtig verrückt wird es, wenn diese Person im selben Land gesichtet wird, in dem ihr lebt. Eine Freundin von mir ist zum Beispiel heute noch davon überzeugt, mich auf einem Foto entdeckt zu haben. Das Bild zeigt eine Frau, die sich mit einem der für Basel im Sommer charakteristischen Schwimmfische den Rhein hinuntertreiben lässt. Das auf dem Foto bin aber nicht ich. Wenn das jemand weiß, dann ich. Erschreckt über die Ähnlichkeit habe ich mich trotzdem. So wie heute. Ich stehe nicht in der Nähe des Äquators Schlange, ich fahre im Bahnhof Sargans ein. Dort steigt ein Mann zu, von dem ich hätte schwören können, es wäre mein Onkel. Er war es nicht. Es war sein Doppelgänger. Er setzte sich neben mich, im Doppelstöcker.

 

Kolumne Autorin auf Schienen; veröffentlicht auf berglink.de

 

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