Saure Apfelringe

Von Liestal nach Lenzburg – Von Schulreisen in reservierten Zügen

 

Man muss schon ein wenig masochistisch veranlagt sein, wenn man in einen Wagen einsteigt, der als reserviert für eine Schulklasse ausgewiesen ist. Meist deutet die Zahl und der Buchstabe auf dem Reservationsschild darauf hin, auf welche Lautstärke und auf welchen Umgang untereinander man sich einstellen kann.

 

Ich bin aber bei Weitem nicht der einzige Masochist. Zum guten Glück gibt es Kopfhörer, denn damit verstopfen sich die Meisten meiner Mitmasochisten die Ohren, noch bevor die ganze Klasse ihre Plätze eingenommen hat. Nun, ich habe meine Kopfhörer vergessen.

 

Heute treffe ich auf eine Klasse bestehend aus Kindern, die diese Bezeichnung nur noch knapp verdienen. Ihr Alter? Irgendwas zwischen Ende Kind und Anfang Teenager. Sie schweben in der seltsamen Phase, möglichst erwachsen zu sein, taff und alles wissend, wenn sie sich nicht gerade in ihrer kindlichen Leichtigkeit durch das gesamte Kalorien-, Fett- und Zuckerparadies futtern, das die Detailhandelsregale hergegeben haben. Etwas vom mit Abstand Großartigsten, was ein Schulausflug zu bieten hat.

 

Da werden Erinnerungen wach. Und das Schönste ist: Gewisse Dinge ändern sich tatsächlich nie: Zweifelchips, Trolli Apfelringe, «Fudibaggeweggli» oder «Schwöbli», wie sie in meiner Heimat gern genannt werden, und «Schoggistängeli». Die Debatte darüber, ob Paprika oder Nature die besten Chips sind, gewinnt keiner.

 

Hie und da merkt man schon, wie Jungs und Mädchen sich interessant finden und doch irgendwie doof. Man neckt sich, schießt dann aber trotzdem ein Foto, auf dem man unbedingt zusammen drauf sein muss. Mit dem Fotoapparat, nicht mit dem Handy. Nur der Film, den man damals entwickeln lassen musste, wurde durch eine Speicherkarte ersetzt. Sonst erinnert die Szenerie beruhigend stark an die Kindheit, wie ich sie erlebt und genossen habe.

 

Dann, in Aarau, ändert sich die ganze Atmosphäre. Einer Welle gleich schwemmt es die Kids aus dem Zug. Den Lärm nehmen sie gleich mit. Er ebbt nicht einfach ab, er ist mit einem Schlag weg. Was zurück bleibt ist die eigene Erinnerung an diese Zeiten: Das Knistern der Chipstüten, das schmatzende Kauen auf sauren mit Zucker überzogenen Zungen. Unterwegssein in einem eigens für deine Schulklasse reservierten Zugwagen. Ohne die Eltern. Dafür mit einem Rucksack, bis unter den Deckel gefüllt mit Leckereien, die Zuhause die meiste Zeit tabu waren. Zu Recht, wie ich inzwischen verstanden habe.

 

In den alten Zügen konnte man die Fenster noch öffnen. Die Wagemutigen streckten den Kopf raus oder zumindest den Haaransatz. Denn auf jeder Fahrt machte die urbane Legende die Runde, dass jemandem durch eine solche Aktion mal der Kopf abgerissen wurde …

 

Während ich in der neu gewonnenen Ruhe im plötzlich leeren Abteil so vor mich hin schmunzle, fasse ich einen Entschluss: Bei meiner Ankunft kaufe ich mir eine Packung saure Apfelringe. Der Nostalgie zuliebe. Mir zuliebe.

 

Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlich auf berglink.de

 

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